Flucht und Forschung: Ukrainische Wissenschaft­lerinnen in Mannheim

Zahlreiche Wissenschaft­lerinnen und Wissenschaft­ler stehen aufgrund des Krieges in der Ukraine vor dem Nichts. Gemeinsam mit der Universität Mannheim hat die Stiftung Universität Mannheim daher kurz nach Kriegsbeginn einen Notfallfonds für junge Forschende, die von den aktuellen Kriegsgeschehnissen betroffen sind, eingerichtet. Daraus werden derzeit drei Forscherinnen und ein Forscher für ein Jahr mit Stipendien unterstützt. Wir haben mit den jungen Frauen gesprochen und stellen hier ihre Forschung an der Universität Mannheim vor: Alina Ivanenko aus Tschernihiw, Olha Lukash aus Sumy sowie Ganna aus Charkiw (Nachname bleibt anonym).

FORUM: Sie kommen aus ganz unterschiedlichen Forschungs­bereichen, befassen sich aber alle schwerpunktmäßig mit der Ukraine. Ganna, Sie sind Linguistin, womit beschäftigen Sie sich aktuell? 

Ganna: Ich analysiere politische Diskurse in der Ukraine, in Belarus und Russland und untersuche, wie nationale Identitäten durch Sprache ausgedrückt werden. 

FORUM: Das klingt nach einem sehr aktuellen Thema. Können Sie ein Beispiel geben? 

Ganna: Ja, momentan ist das sehr deutlich sichtbar. Immer wenn es zu Protest- und Widerstandsbewegungen kommt, wollen die Menschen zum Ausdruck bringen, dass sie zu einer bestimmten Nation gehören. Aktuell gibt es zum Beispiel den Slogan: „Sag Palyanytsya“. Dabei handelt es sich um ein spezielles ukrainisches Brot. Wer kein Ukrainisch spricht, kann dieses Wort nicht richtig aussprechen.  

FORUM: Die nationale Zugehörigkeit wird also über die korrekte Aussprache bestimmt? 

Ganna: Genau. Rein optisch kann man nur schwer unterscheiden, ob jemand aus der Ukraine, aus Belarus oder Russland kommt. Die meisten Ukrainerinnen und Ukrainer können Russisch sprechen, aber kaum jemand aus Russland kann Ukrainisch. Im Russischen ist der Laut „ts“ oft hart, im Ukrainischen ist er aber weich. Deswegen wird der Slogan „Sag Palyanytsya“, der diesen Laut enthält, zur Unterscheidung genutzt. 

FORUM: Frau Ivanenko, ist nationale Identität auch ein wichtiges Thema in Ihrer Forschung? 

Alina Ivanenko: Nicht primär, ich befasse mich insbesondere mit dem Staats- und Justiz­system im Reichskommissariat „Ukraine“ während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg zwischen 1941 und 1944. Meine Dissertation handelt vor allem vom Leben der Menschen unter dieser Besatzung. In meiner Forschung habe ich straf- und zivilrechtliche Gerichts­verfahren untersucht. Diese spielten eine wichtige Rolle im gesellschaft­lichen Leben und bei der Lösung dringender Rechts­fragen. 

FORUM: Unter der deutschen Besatzung gab es also ein offizielles Justiz­system? Welche Verfahren wurden dort behandelt? 

Alina Ivanenko: In jeder Gesellschaft braucht es juristische Regularien, deshalb schufen die deutschen Verwalter Gerichte, Anwaltskanzleien und Notariats­organisationen, um die Einhaltung der Gesetze in der Bevölkerung zu regeln. Dort arbeiteten Einheimische, wobei es den deutschen Behörden in erster Linie darum ging, die örtlichen Richter mit rein routinemäßigen und funktional unkomplizierten Aufgaben zu betrauen, wie der Feststellung und Aufzeichnung von Personenstandsänderungen oder dem Recht auf Ausstellung von Ausweispapieren.

FORUM: Wie gehen Sie methodisch vor? 

Alina Ivanenko: Bisher habe ich mich bei meinen Recherchen lediglich auf ukrainische Quellen gestützt, die ich in unseren Archiven und Bibliotheken gefunden habe. Jetzt bin ich in Deutschland und habe die Möglichkeit, deutsche Quellen zu untersuchen. Ich hoffe, dass mein Deutsch irgendwann so gut ist, dass ich sie selbst lesen und übersetzen kann. 

FORUM: Sie forschen zum Thema Umweltökonomie, Frau Lukash. Womit beschäftigen Sie sich momentan? 

Olha Lukash: Ich erforsche Methoden zur CO2-Reduzierung in der Ukraine und untersuche, wie diese Prozesse den Klimawandel, die wirtschaft­liche Entwicklung sowie nachhaltige Entwicklungen in bestimmten Regionen beeinflussen. Die Ergebnisse meiner Forschung könnten von Politikerinnen und Politikern, Geschäftsleuten und Haushalten für die Wende zu sauberer Energie umgesetzt werden. Was die Ukraine betrifft, hat sich die Situation durch den Krieg jedoch stark verändert. 

FORUM: Inwiefern? 

Olha Lukash: Es gab einen Fahrplan der ukrainischen Regierung, um den Klimawandel zu stoppen oder zumindest zu verlangsamen. Aber mit dem Kriegsbeginn haben sich die Schwerpunkte verschoben. Die Infrastruktur ist zerstört, Häuser wurden zerbombt und wir müssen das Land wiederaufbauen. Das bedeutet zusätzliche Emissionen, wodurch wir den Fahrplan anpassen müssen. Ein Großteil des für den Klimaschutz vorgesehenen Budgets geht nun in andere Zwecke. Vor dem Krieg haben viele Unternehmen angefangen, ihr Geld in Solaranlagen zu investieren. Es war ein hartes Stück Arbeit, diese Umstellung anzukurbeln. Aber mit einem Schlag wurden alle diese Bemühungen zunichtegemacht. 

FORUM: Könnten Ihre Forschungs­ergebnisse in anderen Ländern Anwendung finden? 

Olha Lukash: In der Ukraine haben wir eine spezifische Ausgangslage, da es sehr viele Kohleabbaugebiete gibt. Wenn wir über die Umstellung auf saubere Energie sprechen, müssen wir auch an die Menschen denken, die im Kohleabbau arbeiten. Das ist ein großes wirtschaft­liches Problem. Vielversprechend ist für mich jedoch die Zusammenarbeit mit Professor Ulrich Wagner hier an der Universität Mannheim, da er ähnliche Forschungs­schwerpunkte hat. Er hat eine grundlegende Untersuchung zu den sozialen und wirtschaft­lichen Aus­wirkungen verschiedener Klimaveränderungen gemacht. Und genau das ist für mich sehr interessant. Die theoretische Grundlage könnte dann auf andere Regionen übertragen werden.

Die Interviews in voller Länge lesen Sie auf www.uni-mannheim.de/stiftung/projekte/bisherige-projekte/ukraine-notfallfonds/interviews-mit-unterstuetzten-forschenden

Text: Moritz Klenk/Mai 2023