Die Vermessung des Selbst

Der Körper ist heute nicht mehr selbstverständlich, sondern ein Projekt. Seit Gary Wolfs Ted-Talk von 2010 gibt es hierfür auch einen Namen: Der Begriff „Quantified Self“ bezeichnet Methoden zur Vermessung des Menschen mit Fitnesstrackern, Diät-Apps oder Schlafsensoren mit dem Ziel der Selbst­optimierung. Prof. Dr. Ulfried Reichardt und Dr. Regina Schober am Lehr­stuhl für Amerikanistik der Universität Mannheim untersuchen in ihrem DFG-geförderten Projekt „Probing the Limits of the Quantified Self“ die Möglichkeiten von Handeln und Wissen in Literatur und Kultur des digitalen Zeitalters.

„Liebes Tagebuch. Glückliches Tagebuch. Unwürdiges Tagebuch. Von diesem Tage an wirst du einen nervösen, durchschnittlichen Mann von 1,75 Meter Körpergröße, 73 Kilogramm Körpergewicht und einen nicht ganz ungefährlichen Body Mass-Index von 23,9 auf seinem bisher größten Abenteuer begleiten.“ So lautet die Selbstbeschreibung des Protagonisten in der Dystopie „Super Sad True Love Story“ von Gary Shteyngart. In dem satirischen Roman aus dem Jahr 2010 wird alles vermessen: der Körper, das Vermögen, die Kontakte, die sportlichen Leistungen. Damit liegt der US-amerikanische Autor im Trend. Gleich mehrere Romane, aber auch Filme, Blogs, Apps oder Ratgeber, beschäftigen sich mit der Berechnung und Vermessung des Selbst – dem sogenannten Quantified Self.

Wie wird die neue Bewegung in Literatur, Kunst und Medien dargestellt? Welche politischen und ethischen Fragen ergeben sich, wenn Selbstbeobachtung und Medienkonsum gleichzeitig kommerziell verwertbare Daten generieren und sich die Grenzen von Privatem und Öffentlichem verschieben? Dies ist das Thema des aktuellen Projekts von Regina Schober und Ulfried Reichardt, Inhaber des Lehr­stuhls für Amerikanische Literatur- und Kultur­wissenschaft. Für die Amerikanistik ist das Thema deshalb aufschlussreich, weil die Bewegung in den USA ihren Ursprung hat. Die Technologie wird größtenteils im Silicon Valley entwickelt, und die individuellen und gesellschaft­lichen Veränderungen sind eng mit der amerikanischen Kultur verknüpft. „Unser Schwerpunkt liegt auf Literatur, aber als Kultur­wissenschaft­ler interessieren wir uns natürlich auch für soziologische und philosophische Fragen sowie für neue Medien“, sagt Reichardt.

„Selbstvermessung gab es eigentlich schon immer“, sagt Schober. „Das Phänomen ist nicht neu, aber die Digitalisierung hat es beschleunigt und vereinfacht.“ Früher führte man Buch über das Einhalten von Tugenden. So hielt Benjamin Franklin, einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten, jeden Tag fest, wie nah er seinem Tugendideal kam und verzeichnete seinen Erfolg in einer Tabelle. Heute dagegen messen Fitnesstracker die Körperdaten ihrer Besitzer und verstehen Selbst­optimierung in erster Linie physisch.

Professor Reichardt und sein Team organisierten bereits mehrere Konferenzen und Workshops zum Thema. Anfang Oktober fand die Abschlusskonferenz „Laboring Bodies and the Quantified Self“ statt. Im Mittelpunkt stand das Verhältnis von Selbstvermessung, Körper und Arbeit. Wer sich in sozialen Netzwerken oder auf Quantifizierungs­plattformen bewegt, gibt automatisch unzählige Informationen preis, die als Big Data ökonomisch verwertbar und hochprofitabel sind. Welche Bedeutung hat diese kostenlose „Arbeit“ für Politik, Wirtschaft und das Individuum? Die Wissenschaft­lerinnen und Wissenschaft­ler diskutierten diese Thematik mit Blick auf Mediennutzung, Körperbilder und Literatur.

Text: Yvonne Kaul / Oktober 2018