FORUM: Sie forschen zu Gedächtnisformen und deren Veränderung im Alter. Wie müssen wir uns Ihre Forschung vorstellen?
Kuhlmann: Wir versuchen erstmal zu verstehen, wie Teile des Gedächtnisses bei Jüngeren zwischen 18 und 25 Jahren funktionieren. Wissen wir das, dann erforschen wir ältere Generationen ab 60 Jahren. Dabei zeigen wir unseren Versuchspersonen am Bildschirm zum Beispiel Wörter. Um Kontextmerkmale mit einzubringen, also die Situation später abrufbarer zu gestalten, erscheinen die Wörter beispielsweise oben oder unten am Bildschirmrand, haben verschiedene Farben oder werden von verschiedenen Stimmen gesprochen. Beim späteren Test, ob sie sich an die Wörter erinnern können, sehen wir auch bei Älteren, dass die Wiederherstellung des Kontext die Gedächtnisleistung verbessert: Spricht also zum Beispiel dieselbe Stimme wie zuvor das Wort, kehrt die Erinnerung zurück.
FORUM: Das heißt, Ältere benötigt einen Kontext, um sich an Dinge zu erinnern?
Kuhlmann: Manchmal benötigen sowohl Alt als auch Jung einen Kontext, um sich zu erinnern. Es gibt jedoch umgekehrt eine gute Evidenz dafür, dass die Verknüpfung zwischen Kontext und Information im Alter mehr und mehr nachlässt. Funktioniert dieser Zugang zum Kontext nicht mehr, wird es immer schwieriger, eine Erinnerung hervorzukramen. Deswegen funktioniert auch das semantische Gedächtnis im Alter noch gut, da es nicht mit Kontext verknüpft ist.
FORUM: Was ist das semantische Gedächtnis?
Kuhlmann: Es gibt verschiedene Arten des Erinnerns: Das episodische Gedächtnis reist quasi gedanklich zu einer Erinnerung zurück, die durch einen Kontext wie ein Gespräch oder eine Person ausgelöst wurde. Das semantische Gedächtnis verfestigt sich sozusagen daraus. Das sind Informationen, die wir immer wieder in verschiedenen Kontexten gelernt und klar verbunden haben: Dass Berlin die Hauptstadt von Deutschland ist, daran können wir uns kontextfrei erinnern.
FORUM: Gibt es einen bestimmten Zeitpunkt, ab dem die Gedächtnisleistung nachlässt?
Kuhlmann: Eine zeitliche Einschätzung ist schwer, denn in Studien sind mittelalte Erwachsene (25 bis 60 Jahre) unterrepräsentiert, da diese, zum Beispiel durch Beruf und Familie, weniger Zeit für Forschung haben. Wir wissen aber, dass der Abbau teilweise schon mit 50 Jahren beginnt. Außerdem haben Studien gezeigt, dass das Nachlassen der Gedächtnisleistung auch mit der Pensionierung zusammenhängt. Es gibt natürlich auch genetische Faktoren, die einen Abbau des Gedächtnisses begünstigen, aber das ist zeitlich schwieriger einzuordnen.
FORUM: Helfen denn dann zum Beispiel Kreuzworträtsel, um das Gedächtnis zu trainieren?
Kuhlmann: Kreuzworträtsel bringen weniger als angenommen: Studien bei Älteren zeigen, dass man sich in der geübten Aufgabe verbessert, ansonsten sieht man wenige Transfereffekte. Allerdings ist es faszinierend, dass ältere Erwachsene ihre Leistung in so einer kognitiven Aufgabe steigern können und vor allem, dass das semantische Gedächtnis noch so gut funktioniert. Was wirklich etwas bringt ist: Lesen, ins Theater gehen und längere Unterhaltungen führen. Oder zum Beispiel einen Einkaufszettel schreiben, aber im Supermarkt erstmal probieren, die Waren ohne den Zettel zusammenzusuchen und erst am Ende kontrollieren, ob man alles hat. Sich also selbst aktiv herausfordern.
FORUM: Kann man neben diesem Test etwas tun, damit das Gedächtnis auch im Alter noch gut funktioniert?
Kuhlmann: Positive Effekte auf das Gedächtnis haben vor allem Sport, eine mediterrane Ernährung und auch Optimismus: Studien haben gezeigt, dass ältere Versuchspersonen besser abschnitten, wenn sie wussten, dass es sein kann, dass sie in der Aufgabe gut abschneiden. Umgekehrt führte eine negative Prognose zu einem schlechteren Ergebnis.
FORUM: Woran forschen Sie aktuell?
Kuhlmann: Wir erforschen aktuell, ob es einen Effekt bei älteren Erwachsenen hat, ob sie morgens oder abends lernen. In unseren Versuchen liegen zwischen Lernen und Test zwölf Stunden und gegebenenfalls Schlaf. Bisher konnten wir sehen, dass diejenigen besser abschneiden, die abends lernen und den Gedächtnistest am nächsten Morgen absolvieren. Gerade überprüfen wir, unter anderem mit Fitnesstrackern, womit genau diese verbesserte Leistung zusammenhängt.
Interview: Luisa Gebhardt / Oktober 2022
Beatrice G Kuhlmann studierte Psychologie an der Universität Mannheim und promovierte 2013 in „Cognitive Psychology“ an der University of North Carolina in Greensboro (USA). Zurück in Deutschland, forschte sie zunächst an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, bevor sie einen Ruf auf eine Juniorprofessur für Kognitive Psychologie mit Schwerpunkt kognitives Altern an ihrer Alma Mater in Mannheim annahm. Seit 2018 ist sie Leiterin der Emmy Noether Nachwuchsgruppe „Source Forgetting in Younger and Older Adults“ und seit 2020 Professorin.