Mehrsprachigkeit unter der Lupe

Sprach­wissenschaft­liche Projekte der Anglistischen Linguistik der Universität Mannheim von der Deutschen Forschungs­gemeinschaft (DFG) verlängert und erweitert.

Pressemitteilung vom 16. September 2021
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Bedenkt man, wie viele unterschiedliche Varianten gesprochener und geschriebener Sprache, wie viele Dialekte und oft sehr unterschiedliche Sprachen Menschen beherrschen, versteht man, warum aus sprach­wissenschaft­licher Perspektive gesellschaft­liche und individuelle Mehrsprachigkeit der Normalfall ist und keineswegs eine Ausnahme. Zugleich sind Sprachen dynamisch, das heißt sie verändern sich nicht nur von Generation zu Generation, sondern auch im Verlauf des Lebens, zum Beispiel in Folge eines durch Migration oder Flucht bedingten Kontakts mit neuen Sprachen. Die Frage, wie und warum sich in der Kindheit erworbene Erstsprachen (sogenannte „Muttersprachen“) verändern, steht im Zentrum der von der Deutschen Forschungs­gemeinschaft geförderten Forschungs­gruppe RUEG (Research Unit Emerging Grammars), an der die Universität Mannheim seit 2018 beteiligt ist. Sprecher­universität ist die Humboldt-Universität zu Berlin.

Erforscht wird, wie sich die Herkunftssprachen Türkisch, Kurdisch, Russisch und Griechisch in zugewanderten Familien in Deutschland und in den USA verändern. Dabei liegt das Hauptaugenmerk auf Sprecherinnen und Sprecher der zweiten Generation, also auf den Kindern der ursprünglich ausgewanderten Eltern. In Mannheim wird zusätzlich untersucht, wie sich in den USA das Deutsche als Minderheitensprache trotz des starken Einflusses des Englischen entwickelt und verändert. Studien­teilnehmerinnen und -teilnehmer der RUEG-Projekte sind neben mehrsprachigen Jugendlichen und Erwachsenen in Deutschland und in den USA einsprachige Vergleichs­gruppen in allen Herkunftsländern. In einem standardisierten Verfahren wurden dazu jeweils umfangreiche mündliche und schriftliche Daten erhoben.

Die DFG hat nun der Verlängerung der Forschungs­gruppe um weitere drei Jahre zugestimmt. Für die Universität Mannheim bedeutet dies eine Bewilligung von insgesamt knapp einer Million Euro für drei Teil­projekte. In der neuen Förderperiode sind zwei Mannheimer Sprach­wissenschaft­lerinnen der Anglistik an der Leitung von Projekten beteiligt: Seniorprofessorin Dr. Rosemarie Tracy und Dr. Mareike Keller. Nachdem in der ersten Projekt­phase Veränderungen in der Syntax – also der Satzlehre – im Mittelpunkt standen, erforscht das Mannheimer Team nun, wie sich bestimmte Bereiche des Wortschatzes entwickeln. Welche Neuerungen in der Wortbildung zeichnen sich ab? Wie füllen Sprecherinnen und Sprecher bei der Beschreibung von Szenen Lücken in ihrem Wortschatz? „Aus linguistischer Sicht ist die Welt ein natürliches Sprachlabor. Dank moderner Forschungs­methoden und Korpus­technologien können wir immer besser sprach- und länder­übergreifend untersuchen, wie sich sprachliche Wissens­systeme unter verschiedenen Bedingungen verändern, welche Innovationen auftreten und welche Bereiche einer Erstsprache sich auch bei nachlassendem Kontakt mit der Sprache der Herkunftsländer als stabil erweisen“, so Tracy.

Mehrsprachigkeit als kulturelle Ressource – und kein Hindernis oder Bedrohung

In einem weiteren Mannheimer Vorhaben, das neu in die zweite Förder­phase aufgenommen wurde, sollen die Er­kenntnisse der gesamten RUEG-Gruppe der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Damit fällt das Projekt in den Bereich der gesetzlich verankerten „Dritten Mission“ von Hochschulen, den Wissenstransfer. Dieses Projekt wird in enger Kooperation mit Juniorprofessorin Dr. Judith Purkarthofer von der Universität Duisburg-Essen sowie mit Praxis­partnern in Berlin und Baden-Württemberg durchgeführt. Es wendet sich an mehrsprachige Familien und an Lehr­ende und Tätige in Bildungs­einrichtungen. Ziel ist der Abbau von Unsicherheiten innerhalb von Familien und die Aufklärung von Missverständnissen, da Mehrsprachigkeit im Fall zugewanderter Sprachen im Bildungs­system immer noch als Hindernis oder Bedrohung, nicht als kulturelle und wirtschaft­liche Ressource gesehen wird.

Entwickelt werden Texte, Grafiken, Videos und Audiomaterial, die zeigen, wie sich Sprachen in der Zeit verändern, ohne dass man daraus auf mangelnde Kompetenzen schließen sollte. Das Material wird auf einer Open-Access-Webseite veröffentlicht und steht damit auch als Anschauungs­material für die Lehre und die Weiter­qualifikation in Schulen und Universitäten sowie der Öffentlichkeit zur Verfügung.
 

Kontakt:
Prof. Dr. Rosemarie Tracy
Seniorprofessorin für Anglistische Linguistik
Universität Mannheim
Tel. +49 621 181–2335
E-Mail: rtracymail-mail.uni-mannheim.de