Rausch: Tatsächlich werden wir im Ausland sehr beneidet um unser Berufsbildungssystem. Wir haben selbst in Wirtschaftskrisen eine der geringsten Jugendarbeitslosigkeitsraten in Europa – auch dank der dualen Ausbildung. Doch im Inland steckt das System in der Krise – und das gefühlt schon immer. Bis in die 2000er Jahre waren es noch die Betriebe, die nicht genügend Ausbildungsplätze anboten. Momentan ist es der so genannte „Akademisierungswahn“.
Deutscher: Wir müssen aufhören, die akademische gegen die berufliche Bildung auszuspielen. Beides ist sinnvoll und notwendig. Problematisch ist aber, wenn sich immer mehr Jugendliche für ein Studium entscheiden, obwohl ihr Qualifikationsprofil eigentlich besser zur dualen Ausbildung passt. Das liegt einerseits an einem – zu Unrecht – zu geringen gesellschaftlichem Stellenwert der Ausbildung, andererseits an hausgemachten Problemen innerhalb des dualen Systems.
Rausch: Monetär ist die Entscheidung für ein Studium inzwischen rational, denn es ist oft – wenn auch nicht immer – der Türöffner für eine höhere Gehaltsklasse. Vor 30 Jahren waren in Unternehmen die Möglichkeiten nach oben mit Ausbildung und entsprechender Weiterbildung noch unbegrenzt. Das hat sich deutlich gedreht.
Deutscher: Nicht jeder Abbruch ist automatisch ein Problem, manche Abbrüche münden erfolgreich in andere Berufswege. Wenn die Auszubildenden selbst abbrechen, hat das oft mit falschen Erwartungen zu tun. Die Vorstellung von Berufen wie Koch oder Bäcker ist zum Beispiel oft recht romantisch – Arbeiten an Feiertagen und Frühdienst sind dann harte Realitäten. Aber auch mangelnde sprachliche und mathematische Kompetenzen bei den Auszubildenden machen Probleme.
Rausch: Unternehmen tragen aber auch durch eine schlechte Ausbildungsqualität zur Krise bei. Ob Bewerbermangel oder Abbrüche – das trifft selten die großen, namhaften DAX-Unternehmen. Gerade kleinere Mittelständler, die ihren Azubis wenige Zusatzangebote bieten können, haben hier oft Probleme. Wenn die Betreuung schlecht ist, Arbeitszeiten nicht eingehalten werden oder die Auszubildenden öfter Kaffee kochen und Blumen gießen als fachspezifische Arbeiten zu erledigen, sind die Abbruchquoten deutlich höher.
Rausch: Zum Beispiel durch eine bessere Betreuung, indem man Patenrollen vergibt und diesen betreuenden Fachkräften im Gegenzug eine Entlastung bei ihrer regulären Arbeit ermöglicht. Außerdem sollten Abteilungsdurchläufe nicht zu kurz getaktet sein. Wenn Auszubildende alle paar Wochen von Abteilung zu Abteilung wechseln, dann lohnt es sich für die ausbildenden Fachkräfte kaum, ihnen Aufgaben zu zeigen, die sie nur noch eine Woche erledigen können. Und dann bleibt es eben häufig bei „Knicken, Lochen, Abheften“.
Deutscher: Gerade solche eintönigen Arbeiten sollte man vermeiden. Unsere Forschung hat gezeigt, dass sich insbesondere vielfältige Aufgaben und die Mitarbeit in relevanten Projekten positiv auf die Motivation und Kompetenzen der Auszubildenden auswirken. Außerdem sollten Unternehmen die Qualität ihrer Bildungsprozesse stärker und systematischer steuern – durch ausgebildete Personaler und Pädagogen.
Rausch: Neben der Qualität muss man am Image der dualen Ausbildung arbeiten. Dazu müsste vor allem die Lohnschere zwischen Uni-Absolventen und ausgebildeten Fachkräften wieder verkleinert werden. Leider ist es aber politisch gewollt, dass die Studierendenzahlen ins Endlose steigen, weil es eine irrsinnige OECD-Vorgabe gibt, dass jedes Land auf eine Akademikerquote von 40 Prozent hinarbeiten soll. Für Länder mit einer starken Berufsbildung ist dieses Einheitsziel nach Meinung vieler Berufsbildungsforscher ungeeignet.
Deutscher: Derzeit sind vor allem Fachhochschulen eine starke Konkurrenz, weil deren duales Studienangebot im Kern dem dualen System sehr ähnlich ist. Studierende haben aber nach ihrem Abschluss Aufstiegs- und Weiterbildungsmöglichkeiten, die im klassischen Ausbildungssystem nicht vorgesehen sind: So fängt ein Meister im Bereich Elektrotechnik mit jahrelanger Berufserfahrung bei null an, wenn er sich in einen Bachelor Studiengang für Elektrotechnik einschreiben will. Hier wäre über eine bessere Anerkennungspraxis oder zugeschnittene Studienprogramme nachzudenken. Diese bessere Anschlussfähigkeit ist ein Anliegen, für das wir Berufs- und Wirtschaftspädagogen kämpfen.
Interview: Linda Schädler / Oktober 2018