„Wir müssen aufhören, die akademische gegen die berufliche Ausbildung auszuspielen“

Fach­kräfte werden in Deutschland gesucht wie selten zuvor. Gleichzeitig finden rund 30 Prozent der Unternehmen keine Auszubildenden. Was die Akademisierung mit der Ausbildungs­krise zu tun hat, was Unternehmen gegen den Bewerbermangel tun können und warum sie dabei auch die Unterstützung der Politik brauchen – das wissen die Mannheimer Wirtschafts­pädagogen Prof. Dr. Viola Deutscher und Prof. Dr. Andreas Rausch.

FORUM: Ob Thatcher, Obama oder jüngst Macron – im Ausland schätzt man schon lange unsere duale Berufsausbildung, die kooperativ in Betrieben und Berufsschulen stattfindet. In Deutschland bleiben jedoch immer mehr Ausbildungs­plätze unbesetzt. Woher kommt diese Diskrepanz?

Rausch: Tatsächlich werden wir im Ausland sehr beneidet um unser Berufsbildungs­system. Wir haben selbst in Wirtschafts­krisen eine der geringsten Jugendarbeits­losigkeits­raten in Europa – auch dank der dualen Ausbildung. Doch im Inland steckt das System in der Krise – und das gefühlt schon immer. Bis in die 2000er Jahre waren es noch die Betriebe, die nicht genügend Ausbildungs­plätze anboten. Momentan ist es der so genannte „Akademisierungs­wahn“.

FORUM: 2017 gab es ein Rekordtief an Bewerbungen auf Ausbildungs­berufe. Wollen einfach zu viele studieren?

Deutscher: Wir müssen aufhören, die akademische gegen die berufliche Bildung auszuspielen. Beides ist sinnvoll und notwendig. Problematisch ist aber, wenn sich immer mehr Jugendliche für ein Studium entscheiden, obwohl ihr Qualifikations­profil eigentlich besser zur dualen Ausbildung passt. Das liegt einerseits an einem – zu Unrecht – zu geringen gesellschaft­lichem Stellenwert der Ausbildung, andererseits an hausgemachten Problemen innerhalb des dualen Systems.

Rausch: Monetär ist die Entscheidung für ein Studium inzwischen rational, denn es ist oft – wenn auch nicht immer – der Türöffner für eine höhere Gehaltsklasse. Vor 30 Jahren waren in Unternehmen die Möglichkeiten nach oben mit Ausbildung und entsprechender Weiterbildung noch unbegrenzt. Das hat sich deutlich gedreht.

FORUM: Nicht nur viele Stellen bleiben unbesetzt. Hinzu kommt, dass die Abbruchquote unter Auszubildenden mit über 25 Prozent so hoch ist wie seit den 1990er Jahren nicht mehr. Wo liegt das Problem – bei den Unternehmen oder den Auszubildenden?

Deutscher: Nicht jeder Abbruch ist automatisch ein Problem, manche Abbrüche münden erfolgreich in andere Berufswege. Wenn die Auszubildenden selbst abbrechen, hat das oft mit falschen Erwartungen zu tun. Die Vorstellung von Berufen wie Koch oder Bäcker ist zum Beispiel oft recht romantisch – Arbeiten an Feiertagen und Frühdienst sind dann harte Realitäten. Aber auch mangelnde sprachliche und mathematische Kompetenzen bei den Auszubildenden machen Probleme.

Rausch: Unternehmen tragen aber auch durch eine schlechte Ausbildungs­qualität zur Krise bei. Ob Bewerbermangel oder Abbrüche – das trifft selten die großen, namhaften DAX-Unternehmen. Gerade kleinere Mittelständler, die ihren Azubis wenige Zusatzangebote bieten können, haben hier oft Probleme. Wenn die Betreuung schlecht ist, Arbeits­zeiten nicht eingehalten werden oder die Auszubildenden öfter Kaffee kochen und Blumen gießen als fach­spezifische Arbeiten zu erledigen, sind die Abbruchquoten deutlich höher.

FORUM: Und wie können Unternehmen eine hochwertige Ausbildung sicherstellen?

Rausch: Zum Beispiel durch eine bessere Betreuung, indem man Patenrollen vergibt und diesen betreuenden Fach­kräften im Gegenzug eine Entlastung bei ihrer regulären Arbeit ermöglicht. Außerdem sollten Abteilungs­durchläufe nicht zu kurz getaktet sein. Wenn Auszubildende alle paar Wochen von Abteilung zu Abteilung wechseln, dann lohnt es sich für die ausbildenden Fach­kräfte kaum, ihnen Aufgaben zu zeigen, die sie nur noch eine Woche erledigen können. Und dann bleibt es eben häufig bei „Knicken, Lochen, Abheften“.

Deutscher: Gerade solche eintönigen Arbeiten sollte man vermeiden. Unsere Forschung hat gezeigt, dass sich insbesondere vielfältige Aufgaben und die Mitarbeit in relevanten Projekten positiv auf die Motivation und Kompetenzen der Auszubildenden auswirken. Außerdem sollten Unternehmen die Qualität ihrer Bildungs­prozesse stärker und systematischer steuern – durch ausgebildete Personaler und Pädagogen.

FORUM: Was müsste Ihrer Meinung nach auf politischer Seite geschehen, um die duale Ausbildung auch im Inland wieder aufzuwerten?

Rausch: Neben der Qualität muss man am Image der dualen Ausbildung arbeiten. Dazu müsste vor allem die Lohnschere zwischen Uni-Absolventen und ausgebildeten Fach­kräften wieder verkleinert werden. Leider ist es aber politisch gewollt, dass die Studierenden­zahlen ins Endlose steigen, weil es eine irrsinnige OECD-Vorgabe gibt, dass jedes Land auf eine Akademikerquote von 40 Prozent hinarbeiten soll. Für Länder mit einer starken Berufsbildung ist dieses Einheitsziel nach Meinung vieler Berufsbildungs­forscher ungeeignet.

Deutscher: Derzeit sind vor allem Fach­hochschulen eine starke Konkurrenz, weil deren duales Studien­angebot im Kern dem dualen System sehr ähnlich ist. Studierende haben aber nach ihrem Abschluss Aufstiegs- und Weiterbildungs­möglichkeiten, die im klassischen Ausbildungs­system nicht vorgesehen sind: So fängt ein Meister im Bereich Elektrotechnik mit jahrelanger Berufserfahrung bei null an, wenn er sich in einen Bachelor Studien­gang für Elektrotechnik einschreiben will. Hier wäre über eine bessere Anerkennungs­praxis oder zugeschnittene Studien­programme nachzudenken. Diese bessere Anschluss­fähigkeit ist ein Anliegen, für das wir Berufs- und Wirtschafts­pädagogen kämpfen.

Interview: Linda Schädler / Oktober 2018