„Man muss einer Sprache nicht beim Aussterben zuschauen“

Wenn Sprachen vom Aussterben bedroht sind, ist ihr das nicht egal: Mit ihrer Forschung setzt sich die Mannheimer Professorin für Linguistische Romanistik Dr. Eva Martha Eckkrammer für den Erhalt und die Weiter­entwicklung von Minderheitensprachen ein. Jüngst hat sie für ihr Engagement den zum ersten Mal vergebenen Tacita-Muta-Preis der International Association of Literary Critics erhalten.

FORUM: Eine Gruppe von Minderheitensprachen, die Sie erforschen, sind die so genannten Kreolsprachen. Oft findet man sie auf Inseln, wo sie im Zuge der Kolonialisierung entstanden, als Völker mit unter­schiedlichen Muttersprachen aufeinandertrafen. Wie lief dieser Prozess genau ab?

Eckkrammer: Im späten 15. Jahrhundert suchten die Portugiesen entlang der afrikanischen Küste nach einem Seeweg nach Indien und sicherten sich dabei wichtige Handels­standorte. Nach der „Entdeckung“ Amerikas 1492 kamen dann riesige Migrations­bewegungen aus Europa in Gang und der boomende Sklavenhandel hinzu. Das alles veränderte die Sprachlandschaft in diesen Regionen, denn die verschiedenen Gruppen, die hier aufeinandertrafen, konnten oft nicht miteinander kommunizieren. Dadurch entwickelten sich so genannte Pidginsprachen, die lediglich der Verständigung dienten und mit wenigen Wörtern und einer sehr reduzierten Grammatik auskamen. Unter gewissen Bedingungen entwickeln sich solche Lingua francas über die Zeit zur Muttersprache der Bevölkerung. In diesem Fall bekommen sie nach und nach komplexere Strukturen, ein größeres Lexikon und beschreiten den Weg zur Vollsprache: Das Ergebnis nennen wir Kreol.

FORUM: Sie beschäftigen sich besonders mit Papiamentu, einer Kreolsprache, die auf den ABC-Inseln Aruba, Bonnaire und Curaçao gesprochen wird. Sie ist eine Mischung aus Niederländisch, Spanisch, Portugiesisch, Englisch, afrikanischen und indigenen Sprachen. Weiß man, wo diese Sprache ihren Ursprung hat?

Eckkrammer: Die Basismorphologie stammt aus dem Portugiesischen. Deshalb gehen wir davon aus, dass das dem Papiamentu zugrundeliegende Pidgin seinen Ursprung bereits in Afrika hat, wo die Portugiesen Handel betrieben. Es gelangte von dort auf die Insel Curaçao, die 1634 in niederländischen Kolonialbesitz überging. In den Herrenhäusern zogen afrikanische Sklaven die Kinder groß – deren Eltern waren hauptsächlich Niederländer und sephardische Juden aus Nordbrasilien und Amsterdam. Auch die soziokulturelle Elite konnte sich also unter­einander nicht verständigen, sodass sie das Pidgin der Sklaven aufgriffen. Es wurde zum gemeinsamen Kommunikations­mittel – auch der höheren Schichten – eine Besonderheit unter den Kreolsprachen. Daraus entstand zwischen 1650 und 1750 Papiamentu.

FORUM: Papiamentu ist von allen Kreolsprachen weltweit am meisten entwickelt. Wie lässt sich das erklären?

Eckkrammer: In der Tat hat keine andere Kreolsprache so viel Korpus und Texte auf hohem Niveau. Das gesamte soziale Leben auf den ehemaligen niederländischen Antillen findet außerdem auf Papiamentu statt, zu dem die Bevölkerung eine sehr starke emotionale Bindung hat. Viele Kreolsprachen galten früher als Stigma. Bei Papiamentu war das nie der Fall, weil es auch von der sozialen Elite gesprochen wurde. Auf den ABC-Inseln war Papiamentu als Kommunikations­mittel außerdem ein Integrations­faktor. 1918 bauten die Holländer eine große Raffinerie auf die Insel, im Zweiten Weltkrieg kam mehr als 75 Prozent des Treibstoffs der Alliierten aus dieser einen Raffinerie. Man warb Arbeits­kräfte an, es kam zu einer Bevölkerungs­explosion und Papiamentu war sofort als gemeinsame Sprache anerkannt. Das ist sicher ausschlaggebend dafür, dass sie sich besser entwickelt hat als andere Kreolsprachen.

FORUM: Lief die Entwicklung also ohne Probleme ab?

Eckkrammer: Keineswegs. Das war schon aufgrund der Kolonialgeschichte nicht möglich. Ab 1918 wurde das Schul­system auf den Inseln komplett niederlandisiert. Die Kinder mussten dasselbe lernen wie Schüler in den Niederlanden. Die Abitur­fragen kamen aus Den Haag und waren auf Holländisch. Das führte bis in die 70er und 80er Jahre zu hohen Abbrecherquoten, denn im Alltag hatten die Kinder mit Holländisch nichts zu tun. Heute sprechen fast alle Inselbewohner vier Sprachen: Papiamentu, Niederländisch, Spanisch und Englisch. Aber man diskutiert darüber, Niederländisch ganz aus dem Schul­system zu verbannen. Die Abiturienten gehen heute nicht mehr in die Niederlande zum Studieren, sondern eher in die USA und nach Lateinamerika. Der Stellenwert, den Papiamentu heute in der Bevölkerung hat, ist auf jeden Fall hart erkämpft. Das dauerte das gesamte 20. Jahrhundert.

FORUM: Weltweit gibt es 74 Kreolsprachen mit mehr oder weniger dominanten Gebersprachen – meist Englisch, Französisch, Spanisch oder Portugiesisch. In Namibia sprechen rund 15.000 Menschen noch Küchendeutsch. Unserdeutsch, das in Papua- Neugiunea entstand, hat nur noch hundert Sprecher weltweit. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie aussterben. Sollte man Sprachen einfach sich selbst überlassen oder sie retten?

Eckkrammer: Wenn wir heute über Biodiversität in der Natur sprechen, ist niemand der Meinung, dass es auf eine Tieroder Pflanzengattung weniger nicht ankommt – die Vielfalt ist unser Reichtum. Bei den Sprachen bleibt man hingegen oft untätig. Die Hochrechnungen vom letzten UNESCO-Report zeigen, dass bis 2050 möglicherweise die Hälfte aller Sprachen ausstirbt. Und wenn der letzte Sprecher tot ist, lassen sie sich nur schwer revitalisieren. Es gab Sprachen, die völlig im Niedergang waren – wie Irisch, Galizisch oder Katalanisch. Da war der Wille da, sie wieder in die Schulen und die Gesellschaft zu bringen. Man kann also sehr wohl etwas tun, um eine Sprache zu retten. Man muss ihr nicht beim Aussterben zuschauen.

FORUM: Sie unter­breiten auch hin und wieder Vorschläge, wie man Papiamentu weiterentwickeln könnte. Stößt das manchmal auf Gegenwehr, weil Sie keine Einheimische sind?

Eckkrammer: Bisher war meine Herkunft eher von Vorteil. Ich habe kein Eigeninteresse, wenn ich zum Beispiel vorschlage, wie man die beiden Orthografien von Aruba und Curaçao anpassen könnte. Ich sage nur, was aus linguistischer Perspektive am sinnvollsten ist. Auch die Wertschätzung von außen ist für die Menschen wichtig. Sie freuen sich, dass wir uns mit ihrer Sprache beschäftigen, und merken oft erst dadurch, was für ein Juwel sie da haben. Papiamentu enthält Laute aus vielen verschiedenen Sprachen. Ein Kind, das mit Papiamentu aufwächst, hat kaum Probleme, andere Sprachen zu lernen, weil viele Laute bereits in der Muttersprache angelegt sind, wie ch oder ü aus dem Niederländischen oder die Nasale aus dem Portugiesischen. Wie genial ihre Sprache ist, ist den Einheimischen oft gar nicht richtig bewusst.  

Interview: Nadine Diehl / Oktober 2018