Stefan Reichelstein hat mehr Lebenszeit in den USA verbracht als in Deutschland – und das merkt man ihm an. Immer wieder verwendet er englische Redewendungen, für die es keine passende deutsche Übersetzung gibt. Auch die eine oder andere amerikanische Eigenart hat sich eingeschlichen. So stelle er sich beispielsweise überall mit Vornamen vor – wie vor Kurzem beim Umzug nach Heidelberg, als er sich dem Transportfahrer mit „Stefan“ vorstellte und dafür verdutzte Blicke erntete. Der Schritt über den Atlantik sei ihm nach fast vier Jahrzehnten in den USA nicht leicht gefallen – vor allem eine Professur an der Elite-Universität Stanford aufzugeben. „Ich wollte allerdings wieder in Deutschland leben und noch einmal ein neues Kapitel für mich schreiben – beruflich wie auch privat“, erzählt er. „Insofern war die Universität Mannheim für mich als Ökonomen die natürlichste Adresse. Nicht nur, weil sie in den Wirtschaftswissenschaften ganz oben mitspielt. Auch, weil es die Stiftung der Universität ermöglicht hat, ein international wettbewerbsfähiges Angebot zu machen.“
Reichelstein, der in seiner Karriere mehrfach ausgezeichnet wurde, nur in den angesehensten Fachzeitschriften veröffentlicht und im Editorial Board mehrerer international anerkannter Journals vertreten ist, wird nicht nur eine Stiftungsprofessur für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre an der Fakultät BWL innehaben, sondern in den kommenden Jahre auch ein Institut für nachhaltige Energien aufbauen – das „Mannheim Institute for Sustainable Energy Studies“ (MISES). Die Kostenstruktur und Wettbewerbsfähigkeit von entkarbonisierten Energieträgern seien Themen, die den Experten für Management und Rechnungswesen erst relativ spät in seiner wissenschaftlichen Karriere beschäftigt hätten. „Zunächst habe ich sie als Hobby betrachtet, mittlerweile ist es mir darum aber sehr ernst geworden“, erklärt er. „Der Klimawandel und die Abkehr von fossilen Brennstoffen sind eines der vordringlichsten Probleme unserer Zeit.“ Als Ökonomen interessieren ihn dabei vor allem die privaten und gesamtwirtschaftlichen Kosten der Energiewende. Die kenne noch niemand so genau und das erzeuge Skepsis.
Reichelstein entwickelt deshalb neue Methoden, die es ermöglichen, Preise in einem dynamischen Markt wie dem für erneuerbare Energien verlässlich zu prognostizieren. Marktregulierung, Subventionsmechanismen, die politische Gestaltung der Energiewende – an all diesen Themen forscht der renommierte Ökonom aus Stanford. „Wir haben hier einen typischen Fall von Marktversagen. Aber ich bin zuversichtlich, dass wir es schaffen werden, die CO2-Emissionen auf null oder sogar in den Minusbereich zu senken“, sagt er. Die Frage sei nur, wann. Diesen Prozess zu beschleunigen – das sei es, was ihn antreibe. Das neue Institut soll deshalb auch die Politik beraten und mit thematisch verwandten Institutionen in Deutschland und Europa zusammenarbeiten. Auch den engen Kontakt zu Stanford und dem damit verbundenen Netzwerk will Reichelstein halten.
An der amerikanischen Elite-Universität hat er insgesamt 20 Jahre geforscht. Der Weg dorthin ebnete sich schon früh. Reichelstein ist in Bonn geboren, machte sein Abitur im Alter von 17 Jahren und wusste bereits da, dass er Wirtschaftswissenschaftler werden wollte. In Bonn studierte er zunächst VWL und Mathematik auf Diplom, doch schon nach dem Vordiplom erhielt Reichelstein ein Stipendium, um für ein Jahr an die Northwestern University in Illinois zu gehen. Dort legten die Professoren ihm nahe, sich für ein Doktorandenprogramm zu bewerben. „Das war damals in den Achtzigern wirkliches Neuland. Nicht so wie heute, wo es normal ist, ein Jahr oder gar das ganze Studium im Ausland zu verbringen. Es war nicht mal klar, ob die Abschlüsse in Deutschland überhaupt anerkannt werden“, erinnert sich Reichelstein.
Nachdem er 1984 an der Northwestern in Managerial Economics promoviert wurde, bekam Reichelstein direkt einen Ruf als Assistant Professor an die University of California in Berkeley und spezialisierte sich auf Rechnungswesen. Bereits nach vier Jahren wurde er von der Stanford University abgeworben. Berkeley und Stanford – zwei Universitäten wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Zwei Brutstätten wissenschaftlicher Brillanz, die – getrennt nur durch 45 Minuten Autofahrt an der kalifornischen Bucht – in harschem Wettbewerb stehen. „Die Lehrbelastung ist dort für europäische Verhältnisse sehr moderat. Man hat also vorne weg mehr Zeit, um zu forschen“, sagt Reichelstein. „Außerdem ist die Kultur eine andere: Viele meiner Arbeiten habe ich mit sehr renommierten Kollegen geschrieben, die ein Büro weiter sitzen. Das sind für meine Begriffe die wichtigsten Faktoren, warum es mir und anderen gelungen ist, so forschungsproduktiv zu sein.“
Er sei froh, dass er ein solches Klima auch in Mannheim vorfinde. Begleitet hat ihn seine Frau, eine Amerikanerin, die er bereits zu seinen Doktorandenzeiten kennenlernte – beide wohnten in derselben Achter-WG. Seine zwei Kinder sind in den USA geblieben. „Jedes Jahr habe ich gesagt, das ist mein letztes Jahr in Amerika. Irgendwann habe ich mir das abgewöhnt“, sagt er und lacht. Und nun ist es doch soweit. Stefan Reichelstein ist wieder in seiner Heimat. Die internationale Forschung ist ohnehin näher zusammengerückt. Wie stark, das sei vor allem in Mannheim spürbar. Auch von hier aus wird er deshalb etwas bewegen – da ist er sich sicher.
Text: Nadine Diehl / Oktober 2018