Eine Figur aus dem Antikensaal. Über ihrem Mund ist Klebeband per Fotomontage eingefügt. Daneben steht in schwarzer Schrift: In aller Munde. Demokratieforschung an der Uni Mannheim.

Im Porträt: Prof. Dr. Nicole Altvater-Mackensen

Schon Neugeborene wissen Erstaunliches über Sprache – lange bevor sie sprechen. Psycholinguistin Prof. Dr. Nicole Altvater-Mackensen verrät, wie Babys Sprache wahrnehmen, was Eltern daraus lernen können und warum frühe Sprach­förderung wichtig ist.

Wenn Prof. Dr. Nicole Altvater-Mackensen über Sprache spricht, dann leuchten ihre Augen – nicht wegen besonders schöner Gedichte oder eindrucksvoller Reden, sondern wegen des Staunens darüber, wie unglaublich früh Kinder Sprache wahrnehmen, verarbeiten und verstehen. In ihrem Labor „Wortakrobaten“ im Quadrat L15 unter­sucht sie, wie Babys und Kleinkinder die Welt der Wörter betreten – lange bevor sie selbst zu sprechen beginnen. 

Das „Wortakrobaten“-Labor, das Altvater-Mackensen heute leitet, erinnert eher an ein gemütliches Kinderzimmer als an ein klassisches Forschungs­labor: Bilderbücher, Kuscheltiere, Spielzeug – und eine knallrote Couch, auf der die Forscherin entspannt sitzt. Der Raum soll die jungen Studien­teilnehmenden – von Neugeborenen bis Vorschulkinder – in eine entspannte Atmosphäre versetzen. „Man muss die Kinder auch irgendwie motivieren, mitzumachen. Ihnen kann schnell langweilig werden“.

Schon im Mutterleib nehmen Babys Intonations­muster wahr und reagieren auf Sprach­melodien – bereits im zweiten Trimester ist das Gehör ausgebildet. Nach der Geburt differenzieren sie feine Unter­schiede zwischen Lauten, erkennen ihre Muttersprache wieder und lernen mit wenigen Monaten, wo Worte beginnen und enden. „Ein Neugeborenes hat schon etwas über Sprache gelernt, bevor es selbst sein erstes Wort äußert“, erklärt Altvater-Mackensen. 

Von den Niederlanden bis Mannheim

Ihr Weg zur Professur war alles andere als geradlinig. Ursprünglich startete sie mit einem Faible für Romanistik ins Studium. Einen klassischen Weg zur Psycholinguistik hatte Altvater-Mackensen deshalb nicht. Ihre akademische Laufbahn führte sie über Sprach­wissenschaften, Psychologie, Informations­wissenschaft und Neuro­wissenschaften mit Stationen in Nijmegen (Niederlande), Göttingen, Leipzig und Mainz zur Professur für Psycholinguistik in Mannheim. „Ich habe mir mein Fach eigentlich selbst zusammengebaut“, sagt sie. Dabei wechselte sie von der Theorie zur Praxis: „Ich wollte verstehen, wie Sprache mental funktioniert – da braucht es empirische Methoden.“

Immer im Mittelpunkt: die Frage, wie Sprache im menschlichen Gehirn verarbeitet wird. Ihre Studien­zeit prägte sie früh durch den interdisziplinären Blick. Schon damals faszinierte sie, wie Kinder Sprache lernen und wie stark dieses Lernen mit kognitiven und neuronalen Prozessen verflochten ist. 

Wie aber lässt sich Sprach­verständnis messen, wenn Kinder nicht sprechen können? Im Labor kommen Methoden wie Elektroenzephalographie (EEG) und Eye-Tracking zum Einsatz. Bei den EEG-Experimenten benutzt sie eine Art Badekappe mit Elektroden. Mit diesen werden Hirnströme gemessen, während den Kleinkindern bestimmte Reize präsentiert werden. Das können zum Beispiel zu einem Bild die Sätze „Der Junge isst den Kuchen“ und „Der Junge sieht den Kuchen“ sein. Anhand des EEGs kann dann festgestellt werden, wie ein Wort erkannt wird. Beim Eye-Tracking werden Blickbewegungen der Kinder aufgezeichnet, während sie Bilder sehen und dazu Wörter oder Sätze hören. So werden beispielsweise auf einem Bildschirm ein Löwe und ein Ball gezeigt. Dann wird gemessen, wie schnell das Kind auf „Schau mal, Ball“ das richtige Bild anschaut.

Sprach­erwerb: Zwischen Mythen und Wahrheit 
Rund um den Sprach­erwerb kursieren viele Annahmen – nicht alle halten einer wissenschaft­lichen Prüfung stand. Einer der hartnäckigsten Mythen: Mehrsprach­igkeit überfordere Kinder. Ein Irrglaube, wie Altvater-Mackensen betont: „Mehrsprach­ige Kinder sind nicht verwirrt – sie haben doppelte Kompetenz.“ Tatsächlich zeigen Studien, dass Kinder sehr gut zwischen verschiedenen Sprachen unter­scheiden können, selbst wenn diese im Alltag gemischt werden. „Sie lernen in so einem jungen Alter einfach zwei Sprach­systeme gleich­zeitig – eine Aufgabe, an der Erwachsene oft scheitern.“

Auch die weit verbreitete Meinung, dass Mädchen sprach­lich grundsätzlich begabter seien als Jungen, hält die Wissenschaft­lerin für nicht haltbar. „Geschlecht war in keiner unserer Studien ein signifikanter Faktor – wir sehen individuell sehr unter­schiedliche Verläufe, aber keine systematischen Unter­schiede zwischen Mädchen und Jungen.“

Ein weiterer Irrtum betrifft den sogenannten „Babytalk“: das überdeutliche, oft verniedlichende Sprechen mit Säuglingen. Was für Außen­stehende albern klingen mag, hat in Wahrheit einen entwicklungs­fördernden Effekt. „Wenn wir mit Babys sprechen, passen wir unsere Sprache automatisch an: Wir sprechen höher, langsamer, betonter und mit klarer Intonation. Das hilft Kindern, sprach­liche Muster zu erkennen und Aufmerksamkeit auf Sprache zu lenken“, erklärt Altvater-Mackensen. Diese angepasste Sprechweise, auch „infant-directed speech“ genannt, ist also keineswegs kontraproduktiv, sondern unter­stützt das kindliche Sprach­lernen auf effektive Weise.

Trotz ihrer Expertise beobachtete Altvater-Mackensen die Sprach­entwicklung ihrer eigenen Kinder bewusst nicht wissenschaft­lich. „Ich wollte meine Kinder nicht als Studien­objekte betrachten.“ Ganz entziehen konnten sich diese der Forschung aber nicht: Als neue Experimente im Labor entwickelt wurden, saßen sie oft probeweise vor dem Eye-Tracker. Während ihrer Zeit in Mainz entwickelte die Wissenschaft­lerin einen Prototyp für tragbare Eye-Tracking-Brillen, um kindliche Blickverläufe beim Vorlesen natürlicher unter­suchen zu können – ihre Kinder dienten dabei als erste Tester.

Kindern frühe Teilhabe ermöglichen

Obwohl die Arbeit der Sprach­wissenschaft­lerin als Grundlagenforschung gilt, liefert sie wichtige Er­kenntnisse für Erziehung und Bildung. Etwa zur Bedeutung früher sprach­licher Förderung: „20 Millionen Wörter Unter­schied bis zum dritten Lebens­jahr“ – so groß können die Differenzen im sprach­lichen Input von Kindern sein. Diese Unter­schiede prägen die kognitive Entwicklung entscheidend. Wer mit Kindern spricht, fördert also weit mehr als nur ihr Vokabular. Im „Wortakrobaten“-Labor zeigt sich: Sprache eröffnet Chancen. Die Forschung hilft nicht nur dabei, Sprach­störungen frühzeitig zu erkennen – sie belegt auch, dass Kinder die Welt oft viel früher und differenzierter verstehen, als Erwachsene denken. Wer ihnen früh zuhört, schenkt ihnen nicht nur Sprache, sondern auch Teilhabe. Denn Sprache ist mehr als Kommunikation: Sie ist der Schlüssel zu Bildung, Identität und Gemeinschaft.

Text: Fabio Kratzmaier / August 2025