Eine Figur aus dem Antikensaal. Über ihrem Mund ist Klebeband per Fotomontage eingefügt. Daneben steht in schwarzer Schrift: In aller Munde. Demokratieforschung an der Uni Mannheim.

Wie können Minderheiten geschützt werden?

Hans Peter Grüner ist VWL-Professor mit dem Schwerpunkt Wirtschafts­politik an der Universität Mannheim. Im Interview erklärt er, welchen Beitrag die Volkswirtschafts­lehre zur Verbesserung der Demokratie leisten kann.

FORUM: Wenn man an Forschung im Bereich Demokratie denkt, denkt man nicht zuerst an das Fach Volkswirtschafts­lehre. Wo gibt es Anknüpfungs­punkte?

Prof. Dr. Hans Peter Grüner: Der Markt und die Demokratie haben zwei Dinge gemeinsam. Zum einen ist es die Rolle beider Ordnungen, Konflikte friedlich zu lösen. Zum anderen müssen beide Ordnungen mit der gleichen Herausforderung umgehen: Die relevanten Informationen für die Entscheidungen, die zu treffen sind, sind oft nicht öffentlich verfügbar, sondern sie liegen verteilt und verborgen vor. Beim Markt sind das zum Beispiel Informationen über die Konsumpräferenzen, die die Menschen haben, oder Informationen über Technologien, die für Firmen verfügbar sind. Es gibt schlicht niemanden, der das alles weiß. In der Demokratie ist das Problem ganz ähnlich gelagert. Da geht es darum, aus den vielfältigen und widersprüchlichen Wünschen der Menschen kollektive Entscheidungen zu formen. In der Ökonomik verstehen wir etwas von Institutionen, deren Rolle es ist, verteilte und verborgene Informationen zu Ergebnissen zu führen, weil wir gewohnt sind, Märkte zu analysieren. Dieselben Techniken, die wir dabei benutzen, können wir auch einsetzen, um Demokratien beziehungs­weise verschiedene institutionelle Ausformungen der Demokratie besser zu verstehen. 

FORUM: Mit welchen Forschungs­fragen haben Sie sich in diesem Bereich beschäftigt?

Grüner: Eine große Frage ist, wie in der Demokratie Minderheiten geschützt werden können. Bei einfachen Mehrheits­entscheidungen können dort berechtigte Interessen von Minderheiten zu kurz kommen. Neben den heute lebenden Minderheiten sollte man auch die Menschen in den Blick nehmen, die noch kein Stimmrecht haben, oder Menschen, deren Wünsche in der Zukunft andere sind als heute.

FORUM: Zum Beispiel, wenn es um Klimapolitik geht?

Grüner: Ja, oder beim Thema Staats­verschuldung. Bei beiden Themen­bereichen werden langfristig wirksame Entscheidungen getroffen, die zukünftige Generationen oder neue Mehrheiten betreffen. An anderer Stelle, etwa bei der Redefreiheit, stellt sich die Frage: Wie kann ich vermeiden, dass wichtige Anliegen heutiger Minderheiten unter den Tisch fallen und es zu einer Tyrannei der Mehrheit kommt? Dabei geht es oft auch um Gewinne und Verluste und das Finden einer „passenden“ Mehrheits­regel. Aber nicht nur in der Demokratie können bestimmte Teile der Gesellschaft kaum Gehör finden. Das kann auch auf dem Markt passieren. Gemeinsam mit Alexandra Niessen-Ruenzi aus Mannheim und Christoph Siemroth von der University of Essex habe ich unter­sucht, welchen Einfluss es auf Anlageentscheidungen auf dem Aktien­markt hat, dass die sehr einflussreichen Fondsmanager überwiegend männlich sind. In dem Datensatz, den wir betrachten, werden etwa 90 Prozent der Fonds von Männern gemanagt, die etwa 97 Prozent des Volumens der betrachteten Fonds verwalten. Die Frage ist: Passiert dann etwas anderes, als wenn es mehr Frauen gäbe, die Fonds verwalten? Tatsächlich stehen die Investitionen eines Fonds in einem Zusammenhang mit dem Konsummuster des jeweiligen Geschlechts des Managenden. Es liegt deshalb nahe, dass in einer Volkswirtschaft anders investiert würde, wenn es mehr Fondsmanagerinnen gäbe.

FORUM: Es geht also darum, wer bei Entscheidungen welchen Einfluss hat?

Grüner: Ja, das ist zunächst wichtig, um die aktuellen Institutionen zu bewerten. Mich interessieren ab da aber vor allem institutionelle Innovationen in der Demokratie und in der Markt­wirtschaft. Die Leitfrage ist: Kann man die Regeln – nach bestimmten wohldefinierten Kriterien – besser machen, als sie sind? Unser Ziel ist es, machbare Verbesserungen zu identifizieren. Wenn es bei der Demokratie um schützenswerte Minderheits­interessen geht, kann es zum Beispiel sinnvoll sein, qualifizierte Mehrheits­regeln einzuführen, also nicht auf einfache Mehrheiten zu setzen, sondern zum Beispiel eine Zweidrittelmehrheit für eine besonders kritische Entscheidung erforderlich zu machen.

FORUM: Gibt es auch dazu konkrete Unter­suchungen?

Grüner: Mit einer Reihe anderer Kollegen habe ich experimentell unter­sucht, ob Menschen überhaupt in der Lage sind, passende Mehrheits­regeln auszuwählen, wenn Gewinne und Verluste, die aus einer Entscheidung resultieren, unter­schiedlich stark sind. Können die Menschen die Mehrheits­regeln so auswählen, dass sie auch für jemanden gut wären, der noch nicht weiß, ob er auf der Gewinner- oder Verliererseite steht? Wenn die Verluste höher sind, sollte die Mehrheits­regel strenger gewählt werden. Wir stellen fest, dass viele Menschen bei der Auswahl der Regeln Fehler machen, was in der Praxis problematisch wäre. Qualifizierte Mehrheits­regeln können übrigens auch dann sinnvoll sein, wenn es darum geht, Verschuldung zu begrenzen, ohne die Spielräume der Politik zum Beispiel in einer Krise zu sehr einzuengen. Im Rahmen einer anderen Forschungs­arbeit habe ich unter­sucht, was passiert, wenn man die Mehrheits­anforderungen im Parlament hochsetzt, wenn eine Regierung sich sehr stark verschulden möchte. Tatsächlich kann so in bestimmten Fällen sichergestellt werden, dass Budgetausweitungen nicht umgesetzt werden, um Partikularinteressen zu bedienen, sondern dann, wenn sie im Interesse einer breiteren Mehrheit liegen.

FORUM: Sie haben langjährige Expertise und äußern sich auch mit Gastbeiträgen im Handels­blatt oder in der FAZ. Außerdem waren Sie als Berater der Europäischen Kommission und der Europäischen Zentralbank tätig, aber auch für Unter­nehmen. Haben Sie den Eindruck, dass Ihre Arbeit und die Ihrer Kolleg*innen von politischen Akteur*innen wahrgenommen wird und Sie etwas bewirken können?

Grüner: Bei reinen Theoriearbeiten kommt es sehr selten vor, dass sich jemand mit einer konkreten, praktischen Frage bei mir meldet. Die empirische Unter­suchung über die Fondsindustrie hatte ein sehr starkes Medienecho. Das Papier ist noch recht frisch. Inwieweit sich die Finanz­aufsicht dafür interessiert, wird sich zeigen. Ansonsten kommt es auch mal informell zu einem Austausch mit Abgeordneten. Schön ist, wenn aufgrund einer Empfehlung tatsächlich konkrete Entscheidungen getroffen wurden. Ich erinnere mich an eine Sitzung in einem Unter­nehmen, bei der das noch im Meeting passierte. Das ist natürlich toll. Bei politischen Prozessen gibt es das sicher seltener. Das Normenkontroll­verfahren gegen den zweiten Nachtragshaushalt 2021 war ein erfolgreiches Verfahren, bei dem ich beteiligt war. Bei diesem Nachtragshaushalt fand ich, dass es gewichtige ökonomische Argumente dafür gibt, dass das, was die damalige Bundes­regierung gemacht hat, nicht verfassungs­konform ist. Nach einem Gespräch mit ein paar Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion aus dem Haushalts­ausschuss habe ich eine Stellungnahme verfasst, die mit dem Normenkontrollantrag zum Bundes­verfassungs­gericht nach Karlsruhe ging. Das Ganze war dann am Ende erfolgreich. Damals ging es um 60 Milliarden Euro. Jetzt steigt die Verschuldung durch das 500-Milliarden-Sondervermögen verglichen mit damals doch gewaltig an, aber das ist ein anderes Thema.

Interview: Katja Bauer / August 2025