Auf der Straße zeigt sich Demokratie
Philipp Gassert ist Professor für Zeitgeschichte an der Universität Mannheim. Seit den 1990er-Jahren erforscht er Protestbewegungen in Vergangenheit und Gegenwart. Im Interview erklärt er, warum Menschen demonstrieren, was der Körper mit politischer Kommunikation zu tun hat und weshalb Protest für Demokratien lebenswichtig ist.

FORUM: Herr Professor Gassert, was fasziniert Sie persönlich an der Geschichte des Protests?
Prof. Dr. Philipp Gassert: Für mich ist faszinierend, wie sich eine Form der politischen Kommunikation in so unterschiedlichen Gesellschaftssystemen, in so unterschiedlichen medialen Kontexten immer wieder neu erfindet. Es ging aber schon früh los: in der Antike. Das Wort „Protest“ kommt ja auch aus dem Lateinischen. Seitdem finden Sie Proteste im Bauernkrieg, in der französischen oder amerikanischen Revolution, im Zeitalter der Massenpresse, bei den Gewerkschaften des 19. und 20. Jahrhunderts – und auch im heutigen Zeitalter sozialer Medien.
FORUM: Braucht es in der digitalen Welt überhaupt noch Straßendemonstrationen?
Gassert: Man dachte ja mal, mit dem Aufkommen sozialer Medien im frühen 21. Jahrhundert sei es überflüssig geworden, dass Menschen protestierend auf die Straße gehen. Das Gegenteil ist eigentlich passiert. Eine digitalisierte Jugend – wie Fridays for Future – ging trotzdem aktiv auf die Straße. Weil sie wussten: Wenn ich meinen Körper physisch einsetze, hat es noch einmal eine ganz andere Wirkung.
FORUM: Was genau macht den körperlichen Einsatz so bedeutungsvoll?
Gassert: Wenn ich meinen Protest inszeniere, körperlich auf die Straße trage – dieses Performative des Protests –, dann wird das ja auch geteilt und weiterverbreitet. Fotos davon können millionenfach geklickt werden. Es ist in Bezug auf die Medien eine geniale Strategie, an dieser Körperlichkeit festzuhalten. Protest ist für mich verkörperlichte Kommunikation.
FORUM: Gibt es so etwas wie ein gemeinsames Muster, das alle Proteste verbindet?
Gassert: Ja. Für mich ist Protest über die Epochen hinweg immer eine Form der politischen Kommunikation. Es geht darum, andere anzusprechen, ein Anliegen, einen Widerstand gegen eine Maßnahme zu kommunizieren. Und: Es geht auch immer um diejenigen selbst, die da demonstrieren. Protest ist Teil der eigenen Identität – meist in einem Gruppenkontext.
FORUM: Und warum protestieren Menschen überhaupt?
Gassert: Weil sie glauben, dass sie nicht vorankommen, wenn sie versuchen, über die konventionellen Kanäle politisch Einfluss zu nehmen. Sie setzen darauf, über solche Kommunikationsstrategien Aufmerksamkeit auf ein Thema zu lenken, von dem sie denken, dass es die Politik oder die Gesellschaft nicht genügend interessiert.

FORUM: Was entscheidet darüber, ob ein Protest erfolgreich ist?
Gassert: Die Annahme ist: Wenn die Protestbewegung wächst, ist der Einfluss größer. Aber diese quantitative Betrachtung ist auch offen für Frustrationen. Deswegen definieren sich viele Bewegungen um, gründen Organisationen, Stiftungen oder Ähnliches, um ein Thema weiterhin am Laufen zu halten. Manchmal reicht auch die Wirkung – etwa, wenn Landwirt*innen mit Traktoren oder Lkw-Fahrer*innen sich mobilisieren. Die brauchen gar nicht viele Leute, weil sie große Fahrzeuge haben.
FORUM: Gibt es dabei auch Grenzen? Wo beginnt illegitimer Protest?
Gassert: Gewalt ist in unserer Gesellschaft für politisches Agieren delegitimiert – zu Recht. Das ist kontraproduktiv, denn auf gewalttätige Demonstrierende hört man nicht mehr. Die Aktionen der Roten Armee Fraktion haben das gut gezeigt. Aber: Wenn es um Aufmerksamkeit geht, kann ziviler Ungehorsam – also gezielter Regelbruch – viel erreichen. Denken wir an die Letzte Generation: sehr wenige Leute, sehr viel Aufmerksamkeit.
FORUM: Hat sich im Laufe der Geschichte auch der Umgang des Staates mit Protest verändert?
Gassert: Definitiv. Noch im 19. Jahrhundert und auch in der frühen Bundesrepublik hat der Staat mit einer sehr hohen Gewaltneigung auf Proteste reagiert. Es gab zum Beispiel während der Proteste gegen die Wiederbewaffnung in Deutschland Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre etwa 30 Tote durch Polizeigewalt. Heute ist das fast vergessen, aber es ist Teil unserer Geschichte. Man kann schon sagen, dass es eine Zivilisierung der staatlichen Reaktion gegeben hat. Aber auch heute noch wird besonders in Autokratien mit staatlicher Gewalt auf Protest reagiert.
FORUM: Ist Protest also eine Bedrohung – oder gehört er zur Demokratie?
Gassert: Beides. Protest gehört zur Demokratie dazu. Er ist Teil unserer politischen Kultur. Aber wenn Sie es aus Sicht der Regierenden sehen, dann ist es oft ein notwendiges Übel. Demokratien müssen lernen, das einzupreisen. Diktaturen tun sich damit schwerer – denken Sie an Russland: Dort wird jede Protestbewegung sofort mit der Machtfrage verknüpft.
FORUM: Und was sagt das über unsere Demokratie heute?
Gassert: Eine resiliente Demokratie kann Protest einpreisen und findet Wege, damit umzugehen, übrigens auch mit rassistischem Protest. Ein eher starres System oder eine Demokratie, die noch unsicher ist, wie die frühe Bundesrepublik oder die Weimarer Republik, tut sich schwerer. Protest ist ein Indikator dafür, wie krisenfest eine Gesellschaft ist, aber auch dafür, was in der Gesellschaft inhaltlich gärt.
Interview: Fabio Kratzmaier / August 2025